DAS BILD ENTSTEHT IM RAUM 

zu den Bildern von Jörg Bachhofer


Jörg Bachhofer zeichnet Räume. Das dachte ich zumindest, bevor ich wusste, dass er vor dem Studium der Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in München, Innenarchitektur studierte und zeitweise auch als Architekt arbeitet. Mit diesem Wissen veränderte sich mein Blick auf seine Zeichnungen. Jetzt würde ich sagen: Jörg Bachhofer baut Räume – und zwar tut er dies mit den Mitteln der Zeichnung. 

Er selbst nennt sich Zeichner, aber er zeichnet mit den Erfahrungen des Malers und des Architekten. Der Künstler bildet in seinen Arbeiten keine Räume ab und stellt auch keine Räume dar, sondern er zeigt auf, wie sich Raum bildet. Er bildet Raum – und lässt ihn sich wieder auflösen. Das ist ein Teil seines Verfahrens. Durch den Eindruck des Aufgelöstseins, des Unfertigen, macht er einen Enstehungsprozess sichtbar und für den Betrachter nachvollziehbar. Er macht nachvollziehbar, wie sich Raum konstituiert, wie Räumlichkeit entsteht. 


Seine Arbeitsmaterialien sind Pastellkreise und Tusche. Zwei Stoffe, die sehr konträr sind. Tusche ist transparent, wässrig, geeignet um Flächen anzulegen. Die Kreide erzeugt dominante dunkle Linien und sie ist wasserabweisend. Zuweilen treffen sich Kreide und Tusche auf dem gleichen Blatt. Erst kommen die Linien mit Kreide, dann werden die Tuscheflächen darüber getragen, ganz so, wie man es von Skizzen der alten Meister kennt, wo in eine figürliche lineare Skizze mit Tusche nachträglich Raum, Licht und Schatten angelegt werden. Aber bei Jörg Bachhofer gibt es, in dem Verhältnis Tusche/ Kreide, erstens keine Hierarchie, und zweitens auch keine Zuordnung in dem Sinn, dass die Linie immer die Figur bildet und die Fläche immer den Hintergrund oder den Raum erkärt. Beide, Kreidelinie und Tuschefläche, spielen beide Rollen und führen eine eigenständige Existenz auf dem Blatt. Manchmal überlagern sich Flächen und Linien, manchmal entstehen Leerstellen, weil die Flächen nicht aneinanderstoßen und so Zwischenräume bilden. Sowohl das Verdichten als auch das offenlassen, erzeugen Räumlichkeit. Eine Leerstelle kann zu einem Raum werden oder - wenn sie flächenmäßig kleiner ist als die Umgebung - zur Figur. 


Betrachtet man die Zeichnungen hinsichtlich der Beziehung von Figur und Hintergrund, wird es komplizierter. Es gibt Linien, die Umrißlinien sind, die eine Figur beschreiben und sich so der Form unterordnen. Es gibt aber auch Linien, die für sich genommen autark und selbstbestimmt existieren und selbst fast körperlich wirken, zur Figur werden. Das liegt zum einen an der Materialität der Kreide, und dem erkennbaren Duktus, dem Druck der Hand auf dem Papier, aber eben auch an der vermeintlichen Zusammenhanglosigkeit mit der sich die Linien über die Bildfläche verteilen. Da gibt es wieder keine Hierarchie, jede Linie ist gleich wichtig. 


Und dann es gibt Zeichnungen, da kommen Linien vor, die etwas heller sind, die einen Grund, einen Hintergrund bilden, der einen Raum zwischen Figur und Grund sichtbar macht. Ein sehr interessantes Unterfangen, den Grund nicht durch eine Fläche, sondern durch Linien darzustellen. Weil die Linie in unserer Sehgewohnheit nämlich so sehr mit der Figur, d.h. mit dem Vordergrund assoziiert wird, tut sich optisch eine weitere Ebene auf, die weder Figur noch Grund ist, sondern wie ein Schatten, eine Luftspiegelung oder wie ein Nachbild im Raum schwebt.


In den Blättern von Jörg Bachhofer verhalten sich Linien oft zentralperspektivisch zueinander, sie bilden Fluchtlinien und fluchtende Flächen, die, ganz architektonisch, unser geübtes Raumsehen in der Fläche bedienen. Dem entgegen stehen Linien, die diese Sicherheit wieder auflösen, weil sie sich eben gerade nicht der Perspektive unterordnen. Linien laufen z.B. aufeinander zu, treffen sich aber nicht. Dieses Andeuten und gleichzeitig wieder zurückzunehmen einer Perspektive, sowie das Fehlen einer Begrenzung, lässt die komplette Situation offen. Weder hat man einen Fluchtpunkt noch hat man eine Kontur, die den Gegenstand oder den Raum fasst, und die man vor einem Hintergrund differenzieren könnte. Oft nimmt man diesen unbegrenten, nicht quantifizierbaren Raum als Landschaft wahr, als die Weite eines Landschaftsraumes. Es kann aber auch sein, dass in dieser unhierarchischen Anordnung während der Betrachtung eine Form entsteht, ein Objekt, ein Gegenstand – den das Auge, genauso wie es ihn erfasst hat, auch wieder ziehen lassen kann. 


Wenn man in den Himmel schaut und meint, zwei Flugzeuge flögen direkt aufeinander zu, merkt man erst in dem Moment in dem sie sich treffen müssten, dass sie hunderte, wenn nicht tausende von Kilometern entfernt voneinander sind. Die beiden Flugzeuge treffen sich nicht, weil sie in der Weite des Himmels auf völlig unterschiedlichen Ebenen unterwegs sind. Genau dieses Phänomen Raum erzeugt der Zeichner Jörg Bachhofer auf der begrenzten Fläche eines Zeichenblattes durch die komplexen Beziehungen die er zwischen Linie und Fläche, Hinter- und Vordergrund, Figur und Leerstelle, herstellt. Seine Räume sind nicht stabil und unumstößlich. Vielmehr enstehen und vergehen sie im Auge des Betrachters.



Eröffnungsrede zur Ausstellung „transit“ – Jörg Bachhofer Zeichnungen, im raumwerk München, 2019






Entscheidungen fällen/Entscheidungen fallen

zu den Arbeiten von Stefan Wischnewski



Am Anfang war das Netz. Mit den sogenannten „Netzarbeiten“ hat Stefan Wischnewski mit einem Alltagsgut ein eigenes Genre im Kunstkontext geschaffen. 


In der Vergangenheit nutzte er die konstruktiven Eigenheiten von Netzen um raumbezogene und raumgreifende skulpturale Arbeiten zu schaffen, die er durch entsprechende Titel, wie Center Court oder National Monument, immer in einen Bezug zur Welt des Sports, der Freizeit oder der Architektur stellte. In einem weiteren Komplex geronnen Netze, mit einem Überzug versteift, zu autonomen Skulpturen mit erkennbaren Formen aus der Alltagswelt, wie Pokale, Vasen oder Masken. In beiden Fällen spielte der Künstler mit dem Aspekt der Wiedererkennbarkeit, jedoch auf sehr unterschiedliche Weise: bei den Installationen blieb das Netz als solches erhalten, nur der Kontext wurde ihm entzogen. Die autonomen Objekte hingegen erinnern in Machart und Form an klassische Skulpturen. 


Man muss wissen, dass es im Sport – und Freizeitbereich Ballnetze, Ballfangnetze, Fangnetze, Schutznetze und Tornetze gibt. All diese Anwendungen fordern vom Netz unterschiedliche Größen, Maschenweiten, Materialien, Web – und Flechtarten der Seile, ganz zu schweigen von der Art der Knoten und der Randabschlüsse. Weder Netz noch Farbe an sich besitzen eine feste Form. Das Netz erhält seine Form und seine Bestimmung immer durch eine haltende Konstruktion. Das „Material Farbe“ benötigt einen Farbträger oder einen Behälter.


In seinem neuen Werkkomplex arbeitet Stefan Wischnewski ganz bewusst mit diesen skills. Er beginnt, um im Bild des Sports zu bleiben, ein neues match zwischen Netz und Farbe, in dem er das Netz in Farbe taucht, oder mit Farbe begießt. Während des Trocknungsprozesses erstarrt die Farbe langsam und mit ihr das Netz. In dieser Zeitspanne greift der Künstler mehrmals ein. Er beeinflusst Verteilung, Fluss und Abfluss der Farbe auf dem Netz. Er hängt das tropfende Gebilde kopfüber um. Er spreizt es mit Hilfsmitteln auf, bevor er es weitere Male beschüttet, wieder umhängt, dehnt und zieht. So nähert er sich in vielen Runden langsam einer Form an, deren Aussehen vom Fließverhalten der Farbe, ihrer Viskosität, Zähigkeit und Trocknungszeit abhängt, sowie dem Verhalten des Netzes unter den sich immer wieder ändernden Einwirkungen: der Erstarrung der Farbe, den Gesetzen der Schwerkraft, der Statik, der Raumtemperatur und der Art und Weise wie der Künstler, taucht, hängt, schüttet, giesst, spreizt, zieht, dehnt, dreht oder umdreht. 


Man denkt unweigerlich an Richard Serras verb list compilation*, einer Auflistung von Begriffen, die Tätigkeiten des Bildhauers im Arbeitsverfahren beschreiben. Serra wollte damit auf die Rolle des Prozesses in der künstlerischen Arbeit verweisen. Und um diesen geht es schwerpunktmäßig in Stefan Wischnewskis neuer Werkserie. In seinen früheren Arbeiten entwickelte er die Formen seiner Skulpturen in Abhängigkeit einer Idee, die er ausgehend von Material und Raum entwickelte. Nun ist es so, dass die Entscheidungen, die der Künstler während des Arbeitsprozesses fällt, gar nicht die Form selbst betreffen, sondern lediglich die Bedingungen, unter denen eine Form entstehen kann. Die Form wird nicht gemacht, sie wird.


Will man den Entstehungsprozess nachvollziehen, gerät man in Bewegung. Neigt sich während der Betrachtung, oder legt den Kopf zur Seite, erkennt Farbnasen abwärts, aber auch aufwärtslaufen, Beulen, Falten und Schwünge, die sich mal mit, mal gegen die Schwerkraft ausformen. Irgendwann entzieht sich das Objekt der Erklärbarkeit, und gerade das macht es aus. Rätselhaft ist auch die Beziehung zwischen den Einzelobjekten. Sie sind für sich genommen eigenständige Einheiten, besitzen aber eine gewisse Familienähnlichkeit. Der Künstler arbeitet, bedingt durch Trocknungsphasen, an mehreren Objekten gleichzeitig und überträgt so verschiedene Anwendungen, Maßnahmen und Erfahrungen, die während des Arbeitsprozesses entstehen, von einem Objekt auf das andere. In diesem Werkkomplex lassen sich die Beziehungen der Arbeiten untereinander also nicht aus einer linear erfolgten Entwicklung erklären. Vielmehr muss man sich den künstlerischen Prozess als etwas Dreidimensionales vorstellen, als Handlung im Raum und in der Zeit, so, wie Richard Serra es im Zusammenhang mit seiner verb list formulierte, als "actions to relate to oneself, material, place, and process"*.


Was bedeutet nun der Einsatz von Farbe im Zusammenhang mit den Objekten? Wenn Stefan Wischnewski von Farbe spricht, so denkt er vor allem an (weiße) Farbe als einen Stoff zur plastifizierung seiner Netze, eine von ihm über die Zeit entwickelte spezielle Mischung. Dieses spezielle Verständnis von Farbe als farbigem Material hat dazu geführt, bei den jüngsten Arbeiten wie big fragment oder hattrick das Netz nicht nur in weiße, sondern auch in bunte Farbe zu tunken. Dadurch wird jede Farbschicht bei einem neuen Tauchgang oder einer neuen Schüttung von der Nächsten überzogen und ausgelöscht. Manchmal ergibt es sich, dass die flüssige Farbe das Netz nicht überall bedeckt, und bunte Flecken stehen bleiben, die auf den ersten Blick wie Bemalung aussehen. Die Farben sind aber nicht wie bei einem Gemälde auf eine Fläche gesetzt, sondern sie sitzen übereinander auf dem Netzgewebe. Hier wird die Schichtung sichtbar, und es offenbart sich einmal mehr ein Teil des Prozesses. Und in der komplizierten plastischen Struktur des Netzes entstehen neue Interaktionen: zwischen Farbe und Farbe, zwischen Farbe und Weiß und, nicht zuletzt, zwischen Farbe und Form. 


Es bleibt noch eine Frage offen: wie finden die neuen Arbeiten ihren Weg hinaus in den Ausstellungsraum? Und welche Beziehung haben sie zu ihm, wenn sie ihre Familie im Labor, dem Atelier, verlassen? Hier wählt der Künstler eine Inszenierung im Raum und für den Raum. Die durch die Schwerkraft geformten Objekte müssen selbstverständlich wieder aufgehängt werden, sie brauchen Halt durch eine Wand, einen Rahmen ein Gestell oder einen Sockel. Und sie brauchen den Raum um sich herum. Hier merkt man wieder, dass Stefan Wischnewski ein Bildhauer ist. Er weiß genau was er tun muss, um Raum und Skulptur miteinander in Beziehung treten zu lassen: indem er Architektur präzise reflektiert. 


Dies führt bei der Arbeit five pieces zu einer sehr sinnlichen Beziehung zwischen Raum und Objekt: das upside down von Himmel und Erde im barocken Gewölbe, das Schwelgen von Engeln, Wolken und Seidentüchern, von Schafen und Architekturfragmenten findet sich in den Objekten von Stefan Wischnewski wieder, sie geben dem himmlischen Theater des Barock eine irdische Dimension.


Afra Dopfer




* Richard Serra. Verb List. 1967–68. Graphite on paper, 2 sheets, each 10 x 8" (25.4 x 20.3 cm). The Museum of Modern Art, New York, first published in the journal Avalanche Number 2 in 1971 

Publiziert im Katalog „Stefan Wischnewsky“ – No look pass edition metzel, 2018



Eine Frage der Melodie 

Zu den Arbeiten von Katharina Weishäupl 


Prolog: Der Begriff „Melodie“ bezeichnet per Definition eine „in der Zeit sich entfaltende selbständige Tonbewegung. Auch eine Tonfolge ist eine zeitliche Abfolge von Tönen, jedoch legt sie nur Tonhöhen und deren zeitliche Reihenfolge, nicht jedoch Tondauern fest. Der Begriff „Melodie“ dagegen umfasst nicht nur die Tonhöhenfolge, sondern auch die Tondauernfolge, also den Rhythmus. “


Katharina Weishäupl studierte zuerst Bühnenbild an der Kunstakademie in Stuttgart, wechselte aber nach einigen Semestern in die Klasse für Video und Performance der Künstlerin Joan Jonas, wo sie begann, narrative Sequenzen mit absurden oder traumähnlichen Bildern zu inszenieren. Nach Abschluss des Studiums ging sie nach Glasgow. Dort veränderte sich ihre Arbeit sehr. War sie in ihren frühen Videos selbst die Protagonistin, eliminierte sich die Künstlerin in der Folge als Hauptdarstellerin aus ihren Stücken. Sie sagte dazu: das Performative meiner frühen Arbeit verlagerte sich auf den Arbeitsprozess selbst. 


Wie ist das zu verstehen? Die Installationen Katharina Weishäupls, gehen immer einher mit einer langen, viel Ausdauer erfordernden Aufbau der Arbeit. Ausgehend von einer Grundidee, entwickelt sie den Entwurf während des Aufbaus vor Ort und genau zu eben diesem Ort. Man kann diese Situation durchaus mit einer Performance vergleichen: die meisten Entscheidungen werden live und in situ, unter Berücksichtigung des spezifischen Umfeldes, gefällt.

 

Wer die Künstlerin einmal bei den Aufbauten einer Installation begleitet und beobachtet hat, weiß, was ich meine. Tagelang verschnürt und verknotet sie, auf einer hohen Leiter stehend, so gut wie unsichtbare, haarfeine Nylonfädchen in der Luft oder sie fährt mit den Händen unter großem körperlichen Einsatz, immer und immer wieder Wandstrecken ab, um durchsichtigen Tesafilm darauf zu kleben. Da wird es einem bildlich klar, dass es hier nicht nur um den Aufbau einer Rauminstallation oder Ausstellung geht, sondern darum, auf eine rätselhafte Art, ein Raumvolumen in den Griff zu bekommen, eine Wandstrecke zu vermaßen, oder eine Raumecke zu füllen.  


Neben dem Ergebnis, der fertigen Installation, geht es also auch um das, was die Künstlerin auf dem Weg dorthin tut, es geht um die Handlung. Im Programm einer Performance ist die Anwesenheit des Betrachters als Teil der Arbeit vorgesehen. Katharina Weishäupl lässt uns aber nicht teilhaben an den Vorbereitungen ihrer zum Teil sehr komplizierten und aufwändigen Bauten. Dafür macht die Künstlerin ihre Handlung in der fertigen Arbeit für uns nachvollziehbar: indem man in der Betrachtung zur Aktivität herausgefordert wird. 


Wie macht sie das? Zum einen wählt sie beispielsweise Materialien und Verfahren, die wir alle gut aus dem Alltag kennen. Bei der Arbeit „sempre toujours“: wickelt sie Wolle so lange um ihren Finger, bis eine sehr große Kugel entsteht. Jeder Mensch hat schon einmal einen Knäuel aufgewickelt. Sowohl die raumgreifende Bewegung als auch der zeitliche und repetitive Aspekt dieser Tätigkeit ist uns sehr vertraut. Eventuell erinnern wir uns auch an die Haptik des Fadens und vollziehen diese Geste bei der Betrachtung des Objekts in der Erinnerung nach. Mit dem Wickeln und Umwickeln führt die Künstlerin aber nicht nur eine Handlung in ihre künstlerische Praxis ein, mit der wir uns identifizieren können, sondern sie wählt eine Arbeitsform, in der die zeitliche und die räumliche Dimension zusammenfallen.


Was entsteht daraus? Es entsteht eine plastische Form, die kein Innen und kein Außen hat, keine Schale und keinen Kern, sondern durch und durch, Innen wie Außen gleich ist. Somit besitzt das Objekt auch keine Oberfläche – da diese sich vom Innen ja nicht unterscheidet. Die Form ist nie und doch in jedem Moment ihres Entstehens fertig. Stellt man sich vor, den Knäuel wieder abzuwickeln so bliebe nichts mehr. Dieses Objekt erzählt über sich selbst und darüber wie seine Form entstanden ist. Das Objekt ist also nicht nur das Ergebnis einer Handlung, sondern es erfüllt darüberhinaus alle Merkmale einer bildhauerischen Plastik.


In der traditionellen Terminologie von Bildhauerei ist die als „Plastik“ bezeichnete Figur, im aufbauenden Prinzip aus Ton oder Gips entstanden. Durch ein additives auf - und aneinanderfügen eines homogenen Materials, unterscheidet sie sich von der Skulptur, die durch das Abtragen von hartem Material, wie Stein oder Holz, entsteht. Mit der aufbauenden Technik der klassischen Plastik erarbeitet sich Katharina Weishäupl sowohl Objekte als auch raumgreifende Installationen, je nachdem, welches Material sie verwendet und wie sie es zusammenfügt. In der Arbeit „im Spiegel ist Sonntag“ bespielt sie mit einem minimal plastischen Element, mit Strohhalmen, große Räume. Einzeln betrachtet sind das kleine Hohlkörper, die ein Innen und ein Außen haben, eine Farbe, eine Oberfläche, eine prägnante Form, und bestimmte Eigenschaften, wie Leichtigkeit, Farbigkeit und Empfindlichkeit. Sie steckt die Halme aneinander und baut so lineare Gebilde, die erst unseren Blick und dann unseren Körper durch den Raum führen. Wir folgen dem Rhythmus der leichten Kurven der Halme, die sich unter der Last der Schwerkraft bilden, mit den Augen, während das linearen Gebilde unseren Körper in seine Zwischenräume verweist. 


Eine Linie hat keine Form, sie kann aber eine Form beschreiben. So, wie die Künstlerin die Linie einsetzt, beschreibt sie einen Raum, einen Körper, und, gemäß der eingangs erwähnten lexikalischen Definition von Melodie, eine „in der Zeit sich entfaltende selbständige [Ton-]bewegung“ durch den Raum.


Eine immer wieder in der Geschichte der Kunst thematisierte Frage, ist die nach dem Verhältnis von Kunst und Alltag. Als Pole dieser Auseinandersetzung steht der Dadaismus als Vertreter der totalen Verschmelzung von Kunst und Leben. Die Kunst des Minmal dagegen, hat im „Kunst ist Kunst und alles andere ist alles andere“ das Postulat der Trennung von Kunst und Leben radikal formuliert.


Die Verwendung von Alltagsgegenständen in der Kunst stellt eine Beziehung zur Gegenwart her. Der Preis dafür ist ihr „Verfallsdatum“: Dinge unterliegen Moden und Zuordnungen. So verlieren sie mit der Zeit ihre Aktualität und ihre Bestimmung verändert sich. Katharina Weishäupl verwendet für ihre Objekte und Rauminstallationen industriell hergestellte Materialien, die aus unserem direkten Lebensumfeld kommen. Sie sind nicht bedeutsam oder symbolisch aufgeladen. Gemeinsames Merkmal ist ihre Wandlungsfähigkeit: meistens sind sie biegsam und formbar, und können sich in ihrer äußeren Gestalt total verändern. Sie brauchen aber sonst keine spezifische Behandlung durch die Künstlerin, keine spezielle Bearbeitung durch Hand, Maschinen oder besonderes Werkzeug. Mit diesen Materialien kann man zu jeder Zeit an jedem Ort und unter jeder Bedingung arbeiten, sie sind inhaltlich nicht aufgeladen und verlieren nicht an Aktualität. Im Werk von Katharina Weishäupl werden diese Dinge einfach anders verwendet, sie werden in ihrer Logik umgedeutet und zwar so, dass sie Poesie und Schönheit entfalten dürfen. Auf die Schönheit der Dinge hinzuweisen, ist wichtig. Nicht nur, weil man sieht, dass banale Dinge wie Strohhalme, Plastiktüten, Wolle und Tesafilm schön sein können, sondern weil die Dinge von uns „so gesehen“ in den Alltag zurückkkehren, und uns damit die Poesie des Alltags vor Augen führen. Das ist die perfekteste Verbindung von Kunst und Leben.


Um dies als Künstler zu erreichen braucht man einen starken Sinn für das Besondere im Alltag und im Leben; man braucht eine Entdeckungs- und Lebensfreude, eine Liebe für die Dinge und die Fähigkeit ganz im „hier und jetzt“ zu leben.


Afra Dopfer


Eröffnungsrede zur Ausstellung „eine frage der melodie“ – Katharina Weishäupl in der Städtischen Galerie Landshut 201? 






Was einen Platz zum Ort macht

Zu Leo Kornbrusts, Mahnmal für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Hofgarten, München


Wenn man vom Odeonsplatz aus durch die Arkaden des Hofgartens zum Haus der Kunst will und auf die Staastkanzlei zugeht, trifft man auf eine Skulptur, genauer gesagt, auf einen Stein des Bildhauers Leo Kornbrust. Der Stein, ein großer Würfel aus Granit, stellt sich einem mitten in den Weg. Er ist mit der Handschrift des Bildhauers versehen. Zum Erinnern – zum Gedenken steht darauf. Neben Texten der Weißen Rose hat er auf der Rückseite den Abschiedbrief eines Bauern an seine „Lieben“, kurz vor dessen Hinrichtung durch die Nationalsozialisten, handschriftlich eingraviert. Dieser Text hat eine besondere Wucht. Er beschreibt mit ein paar Worten das ganze Volumen der Grausamkeit, die dahintersteht. Dieser kleine, lakonische Brief, verewigt auf einem beeindruckend großen Stein, schmeisst mich jedes Mal aus der Bahn. Jedes Mal, wenn ich dort vorbeigehe, muss ich ihn lesen und jedes Mal bin ich zu Tränen gerührt. Die Intensität dieses Erlebnisses hat meine Beziehung zu dem Ort verändert; der Stein hat den Ort verändert.



publiziert in: AN_DACHT 50 neue Räume, im Rahmen von Gastspiel Kunst und Kirche, ev. Stadtakademie München, 2012





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